Ambidextrie: Beidhändig zum Erfolg

27. April 2024

Wie können Organisationen Zukunftsthemen vorantreiben, ohne ihre Stabilität zu verlieren? Und kann das Konzept der Ambidextrie dabei wirklich helfen?

Neue Begriffe kommen in die Welt, jedoch sind sie manchmal nur alter Wein in neuen Schläuchen, manchmal weisen Sie aber auch auf interessante neue Aspekte hin! Einige dieser neuen Begriffe heißen z. B. New Work, Agilität, Ambiguitätstoleranz, VUCA[1] oder eben Ambidextrie. Letzteren wollen wir hier ein wenig betrachten, um zu überlegen, inwieweit Ambidextrie als Werkzeug oder Erklärung in organisationalen oder Teamkontexten taugt.

Beidfüßig besser auf dem Platz

Ambidextrie bedeutet wörtlich Beidhändigkeit. Das erinnert vielleicht an die Fähigkeiten von Fußballspielern auch beidfüßig zu schießen, was erstaunlicherweise noch immer keine Bedingung für Bundesligaprofis zu sein scheint! Während jedoch die sportliche Methapher einfach zu verstehen ist, weil einfach beobachtbar, ist das Verstehen von Ambidextrie im Kontext (sozialer) Organisationen um ein Vielfaches schwieriger.

Im Kontext von Organisationsentwicklung bedeutet Ambidextrie im Grunde nur zwei paradoxe Themen zu organisieren oder zu managen, was auf den ersten Blick unmöglich erscheint.  Die Schwierigkeit liegt im Begriff „paradox“, denn eigentlich können nicht beide Themen gleichzeitig bearbeitet werden.  Formal ausgedrückt: der Zustand A kann nicht gleichzeitig und neben dem Zustand B existieren.  Soweit die Theorie. Und Fußballer können auch nur mit einem Fuß schießen und nicht mit beiden Füßen gleichzeitig. Das weiß man aus der Praxis.

Bestehendes optimieren, Neues erkunden

Die spezifischen Paradoxien, die im Mittelpunkt der Diskussion um den Begriff Ambidextrie stehen, wurden aber auch schon lange als solche identifiziert und können als Differenz zwischen Stabilität und Wandel beschrieben werden. Fachlich sprechen wir von der Unterscheidung zwischen exploration, also der Erkundung von Neuem (=Wandel, Innovation, Integration neuer Technologien etc.) und exploitation, also der Optimierung von Bestehendem oder dem Versuch bestehende Prozesse zu optimieren (Ausnutzung von Bestehendem)[2].

Digitalisierung als Treiber

Der Begriff der Ambidextrie im Kontext von Organisationsentwicklung wurde wohl erstmals 1976 von Duncan genutzt (nach Csar, 2021). Dass er erst jetzt, im 21. Jahrhundert, zur Geltung kommt, wird allem der Notwendigkeit der Digitalisierung zugeschrieben.  Alte Geschäftsmodelle und Technologien werden abgelöst, die Digitalisierung bedingt zwingend eine Neuerfindung oder zumindest Neudefinition der Organisation als solche, sei es ein Unternehmen, oder auch eine Behörde. Eines der wohl offensichtlichsten Beispiele ist die Diskussion über die disruptive Veränderung in der Automobilindustrie weg vom Verbrenner, hin zum E-Auto.  Hier zeigt sich: Die Herausforderung für jede Organisation besteht darin, die stabil laufenden Prozesse, die auch den „cash“ im Moment noch bringen, nicht zu kompromittieren zugunsten der innovativen Technologien, die das Überleben in der Zukunft sichern könnten – und umgekehrt.

In meiner Beraterpraxis habe ich im Grunde keine Organisation kennengelernt, die nicht beide Themen gleichzeitig versucht zu organisieren.  Im öffentlichen Dienst wird die E-Akte eingeführt, gleichzeitig sollen aber die bestehenden Prozesse nicht gestört werden. In einem KMU Unternehmen wird ein neues Produkt entwickelt, aber die Entwickler arbeit(et)en gleichzeitig an bestehenden Weiterentwicklungsprozessen älterer Produkte mit.  Ein Verband muss seine beratende Funktion (gegenüber Bürgern oder Politik) zu bestehenden Themen weiterführen (z.B. klassische Lebensmittel), gleichzeitig aber ein Gespür für neue Themen haben (New Food), diese identifizieren und gleichzeitig Beratungskompetenz hierzu aufbauen – mit bestehenden Berater:innen.

Was Ambidextrie nicht kann

Inwiefern hilft nun der Begriff der Ambidextrie? Sicherlich als Erklärungsansatz, um Symptome und deren Konsequenzen und Ausprägungen zu verstehen und auch zu entpersonalisieren. Es liegt an der Paradoxie, die von den Menchen unterschiedliche Herangehensweisen verlangt: Kreativität und Offenheit vs. Detailkompetenz und Fachwissen. Als Werkzeug zum aktiven Organisieren der Widersprüchlichkeiten eher nicht. Gleichwohl stellen die Erklärung und Entpersonalisierung von Mustern an sich ein Mehrwert dar, der ermöglichen kann, sich nüchtern der Klärung und dem Management der Widersprüche zu widmen.

Management von Ambidextrie

Was heißt das also für Sie, wenn Sie Bestehendes optimieren und gleichzeitig Neues erkunden wollen oder müssen? Grundsätzlich haben Sie drei Möglichkeiten:

Zeitlich versetzt: Sequentielle Ambidextrie. Häufig ist auf der  Ebene der Organisation wie auch auf der Teamebene eine sequentielle Trennung erkennbar. Die Teams arbeiten intensiv das ganze Jahr hindurch, am Ende (oder in der Mitte) des Jahres ziehen sie sich für ein oder zwei Tage zurück und beschauen ihr eigenes Funktionieren (oder die entsprechenden Dysfunktionalitäten) durch ein Prismenglas und identifizieren im besten Fall einzelne Bereiche, die hinsichtlich ihres Funktionierens bearbeitet werden müssen (z.B. Informationsfluss/-austausch, Personalmanagement, Strategie etc.) Danach werden die neuen Ideen implementiert und man arbeitet unter dem neuen System weiter, bis zur nächsten „Disruption“ in Form eines Teamworkshops.[3]

Räumlich getrennt: strukturelle Ambidextrie. Manchmal werden Teams voneinander getrennt, um sich zu 100% der Innovation zuzuwenden, die dann später in bestehende Prozesse (der Mutterorganisation) integriert werden muss. Das eine Team kann sich voll der Erkundung von Neuem widmen und explorieren, erforschen, ausprobieren und testen. Das andere Team konzentriert sich auf die Ausbeutung (exploitation) der letzten Optimierungselemente, um den Prozess oder das Produkt billiger oder besser zu machen. Die Herausforderung besteht dann in der Zusammenführung der beiden getrennten Bereiche zu einem funktionierenden Ganzen.

Zusammen: Wenn alle alles machen

Die dritte Option für das Management der widerstrebenden Tendenzen (Stabilität vs. Wandel) ist die Integration von exploitation und exploration innerhalb des gleichen räumlichen wie zeitlichen Kontexts, die sog. kontextuelle Ambidextrie. Die Verantwortung für die Widersprüchlichkeiten liegen dann sowohl bei den Führungskräften, als auch bei den Mitarbeitenden selbst. Die Integration von Stabilität und Wandel in eine Organisationseinheit ist deshalb so schwierig, weil sie die organisationsinterne Komplexität erheblich erhöht (Wimmer, S. 14). Und weil die Menschen in der Organisation häufig nicht gelernt haben mit dieser Komplexität umzugehen, dies noch lernen müssen.

Lösungen für das „Ambidextrieproblem“ müssen auf verschiedenen Ebenen gefunden werden. Führungskräfte müssen sich nicht nur der Unterschiedlichkeit der Pole bewusst, sein, sondern genauso lernen Entscheidungsverfahren, zeitliche Iterationen oder räumliche Trennungen zu organisieren. Es gilt auch Abstand zu nehmen von einem eindeutigen Wahrheitsbegriff im Sinne der einzigen besten Lösung in Diskussionen im Team oder in der Organisation. Das Ziel besteht eher darin eine geeignete, zunächst für angemessen und machbar eingeschätzte Lösung zu definieren, ohne dass diese in Eisen gegossen ist. Gleichzeitig benötigt man im Team, als Führungskraft die Toleranz und das Verständnis, dass einmal entwickelte Ansätze möglicherweise von der Zeit überholt werden und einer kontinuierlichen Anpassung unterliegen müssen.  Nicht zuletzt muss jeder und jede Mitarbeiter:in Räume (auch zeitlich) für sich erhalten und nutzen, in denen exploration möglich ist.

Sie wollen Ambidextrie organisieren oder haben Fragen zum Thema? Sie stehen vor Strategiewechseln oder ähnlichen Umbrüchen in Ihrem Unternehmen? Rufen Sie uns an oder schreiben Sie uns. Wir helfen Ihnen gerne weiter.

 

 

Literatur:

Csar, Matthias: Ambidextrie – Brauchbare Beobachtungsbille zur aktuellen Konfliktdynamik in Organisationen?

March, James G. Exploration and exploitation in organizational learning. Organization Science, 2, S. 71-87.

Schumacher, T. / Wimmer, R.: Widersprüchlichkeit gestalten, in: Organisationsentwicklung, 4/20, S. 10ff.

Zeitschrift für Organisationsentwicklung, „Unter Spannung: Ambidextrie als Zukunftsgarant“, Heft 4/2020.

[1] Die Bezeichnung VUCA steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, also Attributen, die die veränderte Umwelt einer Organisation im 21. Jhdt. kennzeichnen.

[2] Die Begriffe „exploration“ vs. exploitation“ wurden 1991 von James March im Zusammenhang mit der lernenden Organisation eingeführt.

[3] Natürlich ist diese Darstellung arg vereinfacht, denn kein Team kann auf dringliche Innovation verzichten. Diese hält sich nämlich kaum an Jahresrhythmen.

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