Entscheidungen in Organisationen

19. April 2024

Entscheidungen in Organisationen

Organisationen sind die Summe Ihrer Kommunikationsakte, die wiederum Entscheidungen darstellen – sagt Niklas Luhmann. Oder anders: „Sie (die Organisation, d. Verf.) besteht aus ihren Kommunikationsmustern, einem unendlichen Fluss von Entscheidungen. Während Personen kommen und gehen, gilt: Solange Organisationen entscheiden, existieren sie.“ (Boos/Mitterer, S. 22) Wenn wir diese Idee weiterdenken, bedeutet dies letztlich: je besser die Summe der Entscheidungen ist, desto besser wird eine Organisation agieren. Denn Entscheidungen sind „Festlegungen, an die sich eine Organisation (eine Zeit lang) hält und die als Basis für weitere Entscheidungen dienen.“ (Boos/Mitterer, S.23f)  Daher soll dieser Blogbeitrag eine Idee voranbringen, die bereits seit längerem aus der Soziokratie bekannt ist: Die Gegenüberstellung von  Konsensualentscheidungen und „neueren“ Entscheidungsideen, sogenannten „Konsententscheidungen“

Alt: Entscheidungen im Konsens

Als ich in den Neunziger Jahren ein Praktikum bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa machte, wurde ich mit der fast brutalen Ineffizienz von Konsensentscheidungen konfrontiert. Über Jahre bereits diskutierte die OSZE die Frage der Namensgebung der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien. Diese wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens unter dem Synonym FYROM (Former Yugoslav Republic of Macedonia) geführt.  Da die Statuten der OSZE einstimmige Entscheidungen prinzipiell vorsahen, kam es wie es kommen musste: Die „Diktatur“ der Minderheit. Alle damals 34 Staaten waren der Meinung, dass Republik Mazedonien eine gute Entscheidung sei. Alle? Nein, nicht Griechenland, das aus seiner Sicht vielleicht gute Gründe hatte, seine Zustimmung zu verweigern. Die nördlichste Region Griechenlands hieß und heißt seinerseits Mazedonien. Vielleicht ist diese Entscheidung nachvollziehbar, die Griechenland „verhindert“ hat, vielleicht auch nicht.  Jedenfalls hat sie jahrzehntelang Zeit und Geld gekostet.

Versuche diese Blockademöglichkeit eines einzelnen Staates zu verhindern bestanden damals in sogenannten „Konsens-1“ oder „Konsens-2“ Formeln, die jedoch ebenso häufig aufgrund der Koalition zwischen Minderheiten verhindert werden können. Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen wurden kaum zugelassen.

Was hat das mit Entscheidungen in Organisationen zu tun? Nun, es illustriert, dass Konsensentscheidungen sehr häufig in Nicht-Entscheidungen oder in den kleinsten gemeinsamen Nenner münden. D.h. wenn Organisationen die Summe ihrer Entscheidungen sind, werden Organisation besser nicht konsensual „geführt“. Natürlich werden Organisationen nicht konsensual geführt, werden Sie jetzt vielleicht sagen, sondern von einzelnen Entscheidern möglicherweise sogar „diktatorisch“ geführt. Nun, das ist meines Erachtens genauso schlecht, weil sogenanntes Mehrgehirndenken (Begriff wird m.E. dem Neurologen Gerhard Hüther zugeschrieben) unterdrückt wird.

Yuval Noah Harari stellt in seinem Buch 21 Lektionen für das 21 Jahrhundert sogar die These auf, dass die netzwerkartige Kooperation zwischen Akteuren im „Westen“ (z.B. die vielgerühmte Tarifautonomie in Deutschland) letztlich dafür verantwortlich sei, dass der „Westen“ gegenüber dem Ostblock „gewonnen“ habe, weil die besseren Entscheidungen gefallen seien. Wenn an dieser These etwas dran ist, wenn gemeinschaftlich und weitgehend einheitlich erarbeitete und getroffene Entscheidungen einen wesentlichen Beitrag zum Überleben von Organisationen beitragen, gilt es die vielen Kompetenzen der Einzelnen zusammenzuschließen zu einer größeren Entscheidungsinstanz. Was können Organisationen in diese Richtung tun?

Neu: Entscheidungen in Konsent

Nun ja, die Umstände der VUCA-Welt (siehe hierzu Blogartikel von Franziska Franke) machen ja bereits grundsätzlich deutlich, dass es heute weniger denn je eine Planungsicherheit geben kann, i.e. keine imaginierte Sicherheit über die Zukunft, falls es sie denn je gab.

Wenn ich also die Vorteile der Vielheit nutzen will, sollte eine Organisation Entscheidungsverfahren etablieren, die „safe enough to try“ (oder: good enough for now) sind.  Das heißt, dass die Führungskräfte in den Organisationen nach Möglichkeit die Mitarbeiter*innen am Treffen wichtiger Entscheidungen teilhaben lassen, sie hierzu befragen und ernsthaft deren Meinung berücksichtigen.  Je weitreichender die Entscheidung, desto umfangreicher kann u.U. das Beteiligungsverfahren sein (z.B. Einbindung von MA-Zirkeln bei DSM, CH). Je kleiner, desto direkter. Was heißt das konkret?

Das Konsent-Verfahren

Nun, zunächst gilt es den Sinnzusammenhang (Worin besteht das Problem? Welche Risiken / Chancen zeigen sich am Horizont und wie bewerten wir diese?) zu erfassen und diskutieren. In etablierten Arbeitszusammenhängen (langfristige Teamarbeit) ist der Aufwand für diesen Punkt oft überschaubar. Agile Methoden fordern deshalb auch die kontinuierliche Zusammenarbeit in einem möglichst an einem Ort befindlichen Team, damit der gemeinsame Wissenszusammenhang bereits vorhanden ist, wenn das Team Entscheidungen trifft.

Zweitens benötigen wir einen konkreten, möglichst präzisen Vorschlag, der sagt, was, wann von wem ggfs. zu welchem Zweck etc. gemacht werden soll. Dieser Vorschlag ist der Kern des Verfahrens.  Wenn die mündliche Formulierung nicht reicht: aufschreiben! Und dann kommt die Frage: „Welche (schwerwiegenden) Einwände gegen die Annahme dieses Vorschlags gibt es noch?“ Wenn nun jemand Einwände vorbringt, wird er nicht von den anderen „verdammt“ dafür, sondern seine / ihre Absicht geschätzt zu einer Verbesserung des Vorschlags beizutragen.  Einwände sind solche Hinweise, die klar machen, dass der aktuelle Vorschlag reformuliert/verbessert werden muss, um in der Realität (für eine gewisse Zeit) zu bestehen.

Damit wird der oder die, die den Vorschlag formuliert nicht als Nörgler in die Ecke verbannt, mit unabsehbaren Langzeitfolgen. Er oder sie wird dagegen eher gewertschätzt als jemand, der/die sich ernsthaft bemüht um die Verbesserung der Situation. Darüber hinaus nutzen wir die unterschiedlichen Potentiale in den Gehirnen der Kolleg*innen, wie Fachwissen, Überblickswissen, Detailwissen etc., um zu einer besseren Entscheidung zu kommen.

Ist dieses Entscheidungsverfahren schnell und sicher genug? Aus meiner Erfahrung als Teambegleiter und Moderator ist das Konsentverfahren unheimlich zeitsparend und fokussierend, denn immer wird über den einen Vorschlag diskutiert, der tatsächlich eine Lösung zur Fragestellung bringen kann.  Die Kunst besteht allerdings darin aus der Vielzahl der im Raum vorhandenen Ideen und Aspekte einen guten Vorschlag herauszudestillieren.  Sicher? Soweit wie möglich ja: eben safe enough to try, weil ich die Zukunft nicht vorhersagen kann.

Literatur:

Hüther, Gerald: Etwas mehr Hirn, bitte. Eine Einladung zur Weiderentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. 2015, Vandenhoek & Ruprecht GmbH

Boos, Frank/Mitterer, Gerald: Einführung in das Systemische Management, Carl-Auer Compact, 2014

Harari, Yuval Noah: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert

Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 2/2019: „Oben Ohne“

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